[August Bebel in Berlin an Johann Friedrich Westmeyer in Stuttgart]
Schöneberg-Berlin, den 8. Oktb. 1906
Werter Genosse Westmeyer !
Ich weiß nicht wie der Genosse Heym[ann] zu seiner Behauptung kommt ; wahrscheinlich durch Zwischenträgerei. Die Behauptung enthält eine starke Übertreibung.
Ich habe als mir die Aushängebögen der Broschüre der Genoss[in] L[uxemburg] übergeben wurden und ich einen Blick auf einige Seiten gegen das Ende der Broschüre warf, einige mißmuthige Bemerkungen gemacht, aber ich muß den doch auch der Wahrheit die Ehre geben und bemerken, daß als ich nachher den ganzen Text im Zusammenhang las, der Eindruck ein wesentlich anderer war.
Die Genossin L[uxemburg] hat die Broschüre zu ausschließlich vom russ[isch-]poln[ischen] Standpunkt geschrieben, ein Standpunkt den sie bekanntlich in der ganzen Frage des Massenstreiks einnimmt, den ich nicht teile. Aber die Broschüre enthielt nichts, was der deutschen Bewegung irgendwie schaden könnte.
Wie kommt aber H[eymann] dazu aus meinem angeblichen Urteil über die Genossin L[uxemburg] einen Vortrag von ihr zur bekämpfen ?
Ich erkläre grade heraus, daß wenn ich mit der Genossin L[uxemburg] über ein Thema ganz und gar nicht einverstanden wäre, ich dennoch einen Vortrag von ihr für nützlich hielt, weil sie als eine sehr gescheite und geistreiche Frau unter allen Umständen reichen Stoff zu Anregungen giebt.
Wie ich den überhaupt erklären muß, daß ich in der ganzen Partei niemand kenne, der ihr an Reinheit der Gesinnung und Opfermut über wäre.
Endlich möchte ich die Genossin dort bitten vorläufig von einer Einladung der Genossin L[uxemburg] abzusehen. Die Genossin L[uxemburg] ist krank, sie muß das Bett hüten und sie im Bett zu halten hält außerordentlich schwer. Ihr würde jede Einladung die Ruhepflicht zu erfüllen nur erschweren.
Mit Parteigruß
Ihr A. Bebel
Quelle :
— Privatbesitz
— BEBEL August, Ausgewählte Reden und Schriften, Band 9, München, K.G. Saur, 1997, S. 116. - Transkription und HTML-Markierung : Smolny, 2012.