Gewitterschwer hingen die Wolken am politischen Horizont, als sich die Vertreter der Sozialistischen Internationale am 28. Juli 1914 in Brüssel versammelten. Auf ihnen allen lastetedie bange Frage, ob der Blitz sich entladen und die ganze Weltin Brand setzen werde.
Noch war die Hoffnung nicht erloschen, daß es der vereinigten Kraft der sozialistischen Arbeiterklasse gelingen werde, das drohende Verhängnis von der Menschheit abzuwenden. Als am 29. Juli 1914 in einem denkwürdigen Meeting zu Brüssel Jaures und ich es als unsere Überzeugung aussprachen, daß die französischen und deutschen Arbeiter sich als Brüder betrachteten; beseelt von dem gleichen Ideal, und daß sie die Zumutung, aufeinander zu schießen, als ein Verbrechen empfinden würden, brauste ein Sturm des Beifalls durch die riesige Menschenmenge. Wie sollten die Imperialisten es wagen, gegen den Willen der Volksmassen Krieg zu führen? Sie haben es gewagt, und mit Staunen nahm es die Welt wahr: die sozialistischen Arbeiter folgten dem Ruf zu den Waffen, die meisten vom Kriegsrausch ergriffen, viele widerwillig unter dem harten Zwang der Gewalt.
Verwirrt und enttäuscht schauten die Wurzelfesten auf die Führer. Diese schwammen mit dem Strom.
Die wenigen unter ihnen, die den alten Grundsätzen die Treue bewahrten, trennten sich zunächst aus Solidaritätsgefühl nicht von ihren Kampfgenossen. So entstand das Bild einer einigen burgfriedlichen Sozialdemokratie.
In Wahrheit offenbarten sich schon beim Ausbruch des Krieges starke Gegensätze innerhalb der Sozialdemokratie, die bis dahin latent geblieben waren. Mit 13 Fraktionsgenossen forderte ich am 4. August 1914 in der Fraktion die Ablehnung der Kriegskredite als Konsequenz unserer prinzipiellen Gegnerschaft gegen das herrschende System, dem die Verantwortung für den imperialistischen Krieg zuzuschreiben sei. Die Mehrheit der Fraktion bestritt, daß die Deutsche Regierung auf Eroberungen ausgehe, und stimmte für die Bewilligung der Kriegskredite, bekundete, aber den Entschluß, daß, „falls der Krieg den Charakter eines Eroberungskrieges annehmen sollte“, der entschiedenste Widerstand geleiset werden müsse. Da nach einer festen Tradition die Fraktion im Reichstage stets geschlossen auftrat, die Minderheit sich der Mehrheit fügte, so wurde in der Reichstagssitzung vom 4. August für die gesamte Fraktion eine einheitliche Erklärung abgegeben.
Die Regierung liebte es, über ihre Absichten keine Klarheit aufkommen zu lassen. Die großen Wirtschaftsverbände sprachen dagegen offen aus, daß nur ein Friede der Eroberungen geschlossen werden dürfe. Bei dem Einfluß dieser Kreise auf die Regierungspolitik hielten es Bernstein, Kautsky und ich für erforderlich, in dem Aufruf „Das Gebot der Stunde“, die Arbeiter auf die Gefährlichkeit dieses Treibens hinzuweisen, damit die sozialdemokratische Fraktion nunmehr der Regierung die Gefolgschaft versage.
Am 9. Dezember 1915 bekannte auch die Regierung endlich Farbe. In Beantwortung einer sozialdemokratischen Interpellation lehnte es der Reichskanzler Bethmann Hollweg ab, die Initiative zu Friedensverhandlungen zu ergreifen. In der Pose des Siegers forderte er „Garantien, zum Beispiel in der belgischen Frage“, und „Machtgrundlagen für diese Garantien“. „Weder im Osten noch im Westen dürfen unsere Feinde von heute über Einfallstore verfügen“, rief er unter stürmischem Beifall und Händeklatschen aus. Noch deutlicher wurde Herr Spahn, der im Auftrage sämtlicher bürgerlicher Parteien folgende Erklärung abgab: „Mögen unsere Feinde sich erneut zum Ausharren im Kriege verschwören, wir warten in voller Einmütigkeit, mit ruhiger Entschlossenheit — und lassen Sie mich einfügen: in Gottvertrauen — die Stunde ab, die Friedensverhandlungen ermöglicht, bei denen für die Dauer die militärischen, wirtschaftlichen, finanziellen und politischen Interessen Deutschlands im ganzen Umfange und mit allen Mitteln, einschließlich der dazu erforderlichen Gebietserwerbungen, gewahrt werden müssen.“
Jetzt war der Augenblick gekommen, der Regierung und den bürgerlichen Parteien offenen Kampf anzusagen. Unter dem Eindruck dieser Reichstagssitzung stimmten denn auch 44 sozialdemokratische Abgeordnete, als die Regierung kurz darauf, am 21. Dezember, einen neuen Kredit nachsuchte, in der Fraktion dagegen, 66 aber noch dafür. Die Mehrheit war also bereit, mit der Regierung durch dick und dünn zu gehen. Für sie gab es kein Halt mehr. Das zeigte sich später, als sie nicht einmal gegen den Gewaltfrieden von Brest-Litowsk stimmte und dem Frieden von Bukarest sogar die Zustimmung gab. Wollte sich die Minderheit nicht durch Schweigen zum Mitschuldigen dieser grundsatzlosen und verhängnisvollen Politik machen, so mußte sie öffentlich selbständig auftreten.
Zwanzig von der Minderheit brachten deshalb im Gegensatz zu der Mehrheit der Fraktion auch in der Reichstagssitzung ihren Standpunkt in einer Erklärung zum Ausdruck, die der Älteste, von uns, Fritz Geyer, in unserem Auftrage verlas. 22 enthielten sich der Abstimmung. Damit waren die Schranken des Fraktionszwanges niedergelegt. Es war endlich die Möglichkeit gegeben, das systematisch belogene und betrogene Volk über die Ursachen und Wirkungen des Krieges, über die Vorgänge in den besetzten Ländern, über die Art der Kriegführung aufzuklären, gegenüber dem Kriegswahn die Vernunft wieder zur Geltung zu bringen.
Als die Mehrheit der Fraktion im März 1916 bei der Etatsberatung die Intoleranz so weit trieb, zwei Redner aus ihren Reihen zu stellen und der Minderheit jeden Redner zu versagen, konnte sich diese nicht dauernd mundtot machen lassen. So kam es zu meiner Rede vom 24. März 1916 und im Anschluß daran zur Bildung der sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft, aus der im März 1917 die Unabhängige Sozialdemokratische Partei hervorgegangen ist.
Die allgemeinen Gedanken, die in den nachstehenden Reden entwickelt sind, werden jetzt von denen am meisten im Munde geführt, die sie einst am heftigsten bekämpften. Alle jene, die bei uns in den Tagen des Sieges auf die Gewalt pochten und das Recht der Eroberung predigten, rufen heute bei Bekanntgabe der Versailler Friedensbedingungen nach Rechtsfrieden und Selbstbestimmungsrecht. Garantien, Gebietserwerbungen, militärische, wirtschaftliche und finanzielle Sicherungen, die sie vier Jahre hindurch als das unbedingte Recht des Siegers gefordert haben, werden jetzt von ihnen mit sittlicher Entrüstung als Akte brutaler Gewalt gebrandmarkt. Eine innere Wandlung hat sich mit ihnen nicht vollzogen. Sie sind heute wie damals im nationalistischen Denken befangen, obwohl gerade die Geschichte der letzten Jahre bewiesen hat, daß diese Anschauungen verderbenbringend sind.
Vom marxistischen Standpunkt aus, der sich von jeder nebelhaften Phraseologie fernhält, war es möglich, schon frühzeitig den Zusammenbruch der Kriegspolitik, den Umsturz der Throne, das Herannahen der Revolution vorauszusehen und die Zusammenhänge des geschichtlichen Werdens klar zu erkennen.
Die hier gesammelten Reden dürften zur Erkenntnis beitragen, daß eine grundsatztreue internationale sozialistische Politik auch die klügste nationale Politik ist.
Berlin, den 19. Mai 1919.
Hugo Haase.
Quelle :
— HAASE Hugo, Reichstagsreden gegen die deutsche Kriegspolitik, Berlin, E. Berger & Co. Berlin, W. 62, 1919, S. 7 - 9 ;
— Transkription und HTML-Markierung: Smolny, 2014.